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Titel
Geschichte aus der Stadt. Überlieferung und Aneignungsformen der deutschen Chronik Jakob Twingers von Königshofen


Autor(en)
Serif, Ina
Reihe
Kulturtopographie des alemannischen Raums (11)
Erschienen
Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten
297
Preis
€ 99.95
von
Martina Stercken, HIstorisches Seminar/NCCR Mediality, Universität Zürich

Seit geraumer Zeit wird städtische Historiographie nicht mehr vor allem als Quelle für örtliche Verhältnisse ausgewertet und mit der pragmatischen Überlieferung abgeglichen, sondern in ihrer Eigenart als «Gedächtnis der Stadt» (Peter Johanek, 2016) ausgelotet. Damit sind Konzeptionen und Logiken der Aufzeichnung historischen Wissens, Situationen der Deutung, Instrumentalisierung und Inszenierung städtischer Vergangenheit, aber auch mögliche Funktionen von Geschichtsschreibung ins Blickfeld gelangt.

Ina Serifs Freiburger Dissertation, die sich mit den Gebrauchsformen eines historiographischen Texts befasst, ist in diesem Forschungsfeld zu situieren. Am Beispiel der Chronik des Strassburger Klerikers Jakob Twinger von Königshofen aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert fragt sie nach «Formen und Funktionsangeboten» (S. 2) spätmittelalterlicher Geschichtsschreibung. Konkret geht es um Momente, in denen diese Chronik von Gruppen oder Individuen in der Stadt, aber auch darüber hinaus, abgeschrieben, rezipiert und angeeignet wurde. Umsichtig die methodischen Prämissen einer Erforschung historiographischer Überlieferungsformen als Texte und materielle Zeugnisse reflektierend, zeigt Serif, wie wirkungsvoll Jakob Twingers Chronik war und auf welche Weise sie bis ins Druckzeitalter in anderes Schriftgut übernommen wurde.

Eine Auslegeordnung zu den Twingers Werk rezipierenden Handschriften bildet den Ausgangspunkt für Serifs Überlegungen. Stätten der Produktion werden vor allem im Südwesten des Reiches, insbesondere aber am Oberrhein mit Strassburg im Zentrum, festgestellt, (leider kaum lesbar) kartiert und die Besonderheiten der Texte im Umgang mit dem Geschichtswerk Jakob Twingers beschrieben. Dabei setzt sich Serif von älteren Kategorisierungen der Geschichtsschreibung nach ihrem Berichtsraum (Stadt, Bistum, Welt) ab, hinterfragt Überlegungen zur Identitätsstiftung als vorrangige Funktion städtischer Historiographie, aber auch Ansätze, die Textrezeptionen als Emanationen eines Urtexts begreifen. Sie verfolgt die These, dass erst individuelle Verwendungen des Chroniktexts Aufschluss über die spezifische Bedeutung von Geschichtsschreibung als Erinnerungsmedium geben können. Wie 128 (im Anhang nochmals eigens aufgelistete) Textzeugen das Geschichtswerk Jakob Twingers mit anderer Überlieferung kombinieren, ist ein weiteres zentrales Thema. Auch mit Blick auf die Materialität der jeweiligen Überlieferung wird herausgearbeitet, in welchen Formen Rezipienten den Chroniktext übernehmen, erweitern, verändern, kürzen und mit Blick auf die jüngere Vergangenheit ergänzen. Bemerkenswert erscheint dabei unter anderem, dass die Chronik offenbar öfters mit bestimmten Texten, so zum Beispiel den sogenannten Konstanzer Jahrgeschichten und der Anonymen Berner Chronik kombiniert und auf andere historiographische, religiöse oder theologische Literatur bezogen, gelegentlich bebildert, tradiert wurde.

Ina Sarif kann die Zugänglichkeit der Handschrift in Strassburg annähernd rekonstruieren; sie weist nach, dass oberdeutsche Historiographie (wie etwa die Berner Chronik des Konrad Justinger, um 1420) die Twingersche Chronik zitiert und zeigt darüber hinaus, dass Texte aus bürgerlichen, adeligen und klerikalen Kreisen in je unterschiedlicher Weise und über kaum nachvollziehbare Kanäle vom breiten Angebot des Chroniktexts Gebrauch machten. Dabei verbindet Sarif die vielfältigen Rezeptionsformen mit dem Begriff der ‹(Re‐)Funktionalisierung›, der sowohl ein Zurückkommen der Rezipienten auf die Funktionsangebote der Chronik Jakob Twingers impliziert als auch durch neue Akzentsetzungen, Fokusverschiebungen oder Homogenisierungen bestimmte Versuche umfasst, ein eigenständiges Werk vorzulegen. Weiter diskutiert werden könnten in diesem Zusammenhang die spezifischen Interessen derjenigen, die Twingers Chronik jeweils zu einer eigenen Geschichtserzählung verarbeiten.

Indem sie die Zirkulation und die Aneignungsformen von Historiographie aus der Stadt zum Gegenstand macht, eröffnet Ina Serifs Dissertation also einen neuen und anregenden Zugang zur Bedeutung spätmittelalterlicher Historiographie. Ihre Beobachtungen zur Chronik des Strassburger Klerikers Jakob Twingers von Königshofen liefern den Nachweis dafür, dass das ‹Gedächtnis› einer Stadt in ganz verschiedenen Kontexten als Fundgrube für Wissen unterschiedlicher Art dienen konnte, der Gebrauch von Geschichtsschreibung also ein dynamisches Eigenleben besitzt.

Zitierweise:
Stercken, Martina: Rezension zu: Serif, Ina: Geschichte aus der Stadt. Überlieferung und Aneignungsformen der deutschen Chronik Jakob Twingers von Königshofen, Berlin / Boston 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 279-280. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

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